Fablabing the Cherrycake

Wir erfahren eine Zeit technischer, gesellschaftlicher und politischer Umbrüche. Folgt man der These, dass Architektur und Stadt immer auch das Abbild ihrer Produktionsbedingungen sind, so stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie sich die Stadt und ihre Architektur zukünftig wohl entwickeln werden. Werden nach Richard Florida[1] die Metropolen zu architektonisch innovativen Leuchttürmen, während die ruralen Siedlungen zerfallen und bestenfalls in banalster Fertighausarchitektur versinken? Im Folgenden möchte ich anhand einer Fallstudie der Schwarzwaldbaukultur eine Gegenthese zu dieser Polarisierung aufbauen und eine Perspektive auf eine andere baukulturelle Zukunft des ländlichen Raums öffnen. Basierend auf der Robertsons Theorie der „Glokalisierung“[2] möchte ich aufzeigen, dass in der vermeintlichen Schwäche der (bau)kulturellen Isolation auch die Chance zu einer eigenständigen Architektursprache liegen kann und einen Weg für diese Entwicklung aufzeigen.

 

  1. Einordnung

Die optimistische und liberale Dynamik der metropolitanen Regionen wurde durch den politisch artikulierten Protest aus dem ländlichem Raum überrascht. Das Entsetzen über das Erstarken von populistischem und antiliberalem Gedankengut ist groß und die Suche nach Erklärungen und Hintergründen rückt in den Fokus. Didier Eribon scheint in diesem Zusammenhang mit seiner Milieuanalyse „Rückkehr nach Reims“[3] plausible Erklärung dieses Phänomens zu liefern: Der ländliche Raum als Raum der Abgehängten, der intellektuell, kulturell und ökonomischen Verlierern der Digitalisierung und Globalisierung. Sieht man sich die geografische Stimmenverteilung zur Brexit-Abstimmung in Großbritannien oder der US-Wahl 2016 an, so scheinen Sie diese These zu unterstützen. In den Metropolen überwogen die liberalen und weltoffenen Stimmen der jüngeren und gut ausgebildeten Bevölkerung, in den ländlichen Regionen eher die konservativen und kritischen Stimmen der eher älteren Bevölkerung mit niedrigeren Bildungsstandards. Ist dieses Abstimmungsverhalten tatsächlich der „Aufstand der Abgehängten“[4], ein wütender Denkzettel des ländlichen Raumes der sich von den stark wachsenden Metropolen im Stich gelassen fühlt?

 

 

  1. Beobachtung

Tatsächlich belegen die erhobenen statistischen Werte zum ländlichen Raum eine teilweise deutliche Schrumpfung gegenüber einem starken Wachstum im metropolitanen Bereich. Richard Floridas These scheint zu greifen: er betrachtet in „the rise oft he creative class“[5] die kreative Klasse und die von ihr hervorgebrachten Innovationen als Basisfaktoren für soziales, kulturelles und vor allem ökonomisches Wachstum. Dabei geht er von einer Art selbstverstärkendem Prozess um die kulturellen Metropolen aus. Ein kreatives Umfeld ermöglicht Arbeitsbedingungen und Innovationen, die dann wiederum andere Kreative anziehen. Nach den Mechanismen dieses „The-winner-takes-it-all“-Urbanism[6] entwickelt sich so eine hochmobile kreative Avantgarde, um deren Ansiedlung die globalen Metropolen gegeneinander im Wettkampf stehen. Der ländliche Raum ist nach dieser These maximal noch ein landwirtschaftlicher Produktions- und touristischer Rückzugsraum.

Betrachtet man die sozialen und strukturellen Veränderungen im ländlichen Raum, so ist man geneigt diesem Szenario zuzustimmen. Die Siedlungskerne verlieren durch den demografischen Wandel und die Landflucht ihre Nutzung. Durch diesen Schrumpfungsprozess wird die Aufrechterhaltung städtebaulicher Basisfunktionen immer schwieriger. Bildungseinrichtungen müssen geschlossen bzw. zusammengeschlossen werden, die medizinische Versorgung der älter werdenden Bevölkerung wird immer problematischer, die Nahversorgung wird ökonomisch unrentabel und die Aufrechterhaltung der Verkehrs-und Versorgungsinfrastrukturen ist auf Dauer nicht zu gewährleisten.

Wenn wir Architektur also als Abbild der Gesellschaft verstehen, so sind die verlassenen Dorfkerne, die leeren Straßen und die banalen Fertighäuser am Dorfrand ein Abbild einer sich auflösenden ländlichen Gesellschaft. Angesichts dieser existenziellen Probleme scheint die Frage nach einer ruralen Baukultur beinahe wie ein intellektueller Treppenwitz.

 

 

  1. These

Dennoch scheint es auch gegenteilige Entwicklungen zu geben. Nach Roland Robertson[7] werden die globalen kulturellen Ideen und Ausdrucksformen immer auch im Kontakt mit den lokalen Gemeinschaften modifiziert. Robertson spricht hier von der „Glokalisierung“[8] von globalen Trends und Entwicklungen. Der Prozess scheint umso stärker zu sein, je ausgeprägter die jeweiligen regionalen Identitäten sind. Manche ländlichen Räume entwickeln gerade aus der Abgrenzung gegenüber den Metropolen ganz eigene kulturelle Identitäten, aus denen sich mitunter eine sehr spezifische Baukultur entwickelt[9]. Ihre architektonische Qualität kann mit der der Metropolen durchaus mithalten, ihre Kontextspezifität macht sie jedoch zu etwas unverwechselbarem, das sich gegenüber den zeitgeistorientierten urbanen Trends deutlich abgrenzt. Die explizite Ausrichtung auf den regionalen Kontext ist nicht nur die einzige Chance sich zu behaupten, ich stelle sogar die These auf, dass sie einen baukulturellen Mehrwert gegenüber den metropolitanen Architekturen darstellt. Was ist also der regionale Kontext? Was sind die gesellschaftlichen Aspekte, die in diesen spezifischen regionalen Baukulturen ihr Abbild finden?

 

  1. Fallstudie Schwarzwald

Hier lohnt sich ein Blick auf den ländlichen Raum des Schwarzwaldes. Er eignet sich hervorragend als Fallstudie und baukulturelles Experimentierfeld. Der Schwarzwald ist eine Region mit einer sehr ausgeprägten Ikonografischen Wirkung die global funktioniert. Aus geografischer Betrachtung sind die Zugehörigkeit zu den naturlandschaftlichen Nationalparks des Hochschwarzwaldes auf der einen und der Einfluss der stark wachsenden trinationalen Metropolregion Oberrhein auf der anderen Seite ein interessantes Spannungsfeld. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen sind im Umbruch, es hat sich eine international ambitionierte Kunstszene entwickelt[10], eine eindeutig identifizierbare regionale Baukultur hat sich allerdings noch nicht herausgebildet. Dies alles macht den Schwarzwald zum interessanten Testobjekt, für das ich hier fünf Thesen zur Entwicklung einer eigenständigen Baukultur zur Debatte stellen möchte:

 

  1. Die räumliche Dualität zwischen Rückzugs und Kommunikationsräumen ermöglichte Innovationen
  2. Die allgemeinen Stereotypen des Schwarzwaldes wurden von einer neuen Realität abgelöst
  3. Die Architektur erfährt durch die Digitalisierung fundamentale Veränderungen
  4. Die regionale Identität ist der analoge Anker der digital Natives
  5. Die Glokalisierung ist der Weg zu einer neuen Schwarzwaldbaukultur

 

4.1. Die Tradition der merkwürdigen Revolutionäre                         

Um das Wesen und die Eigenheiten der aktuellen Situation des Schwarzwaldes zu verstehen lohnt zunächst ein Blick auf seine historische Entwicklung. Die Geschichte des Schwarzwaldes ist voll von merkwürdigen Revolutionären[11]. Diese Betrachtung setzt historisch bei der badischen Revolution und ihren Anführern Friedrich Hecker und Gustav Struve an. Deren badische Revolution von 1848/49 fand hauptsächlich in den Mittelzentren und im ländlichen Raum statt und unterschied sich nicht nur geografisch sondern auch in ihrer Art und ihrem Verlauf deutlich von den martialischen Umstürzen der Zeit.

Doch nicht nur militärisch, sondern vor allem auch sozial und ökonomisch wurde der Schwarzwald ab dem 19. Jahrhundert sehr aktiv und vor allem innovativ. Die handwerklichen Kompetenzen im Holzbau und auch in der Mechanik bildeten eine exzellente Basis für die Industrialisierung. Die kleinen Werkstätten der Feinmechaniker und Uhrmacher waren der Ausgangspunkt, aus dem sich bald große und vor allem innovative Spartenmarktführer entwickelten. Der starke Aufschwung der Automobilindustrie war für die mechanisch versierten und mittlerweile hochspezialisierten Unternehmer ein weiteres Innovationsfeld. Dies führte zur Etablierung der „Hidden Champions“[12], der unbekannten Spartenweltmarktführer, die bis heute das ökonomische Rückgrat der Region bilden. Das hatte zur Konsequenz dass die hochspezialisierten Unternehmen sehr innovativ arbeiteten und die Anzahl der angemeldeten Patente beständig stieg[13]. Doch nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell und und vor allem kulinarisch ist der Schwarzwald traditionell sehr progressiv. Vor allem die Verbindung der geografisch nahen französischen Küche und des Weinbaus lieferte die Grundlagen auf deren Basis die einheimischen Küche zu einer sehr eigenständigen kulinarischen Sprache ausgeprägt wurde, die zu einer der höchsten Dichten an Sternerestaurants in Europa führte[14].

 

Über die Grundlage dieser progressiven ruralen Gesellschaft lässt sich treffend forschen. Ich stelle die These auf, dass sich die historische Innovation des Schwarzwalds aus der Dualität zwischen den sehr ruhigen landschaftlichen Rückzugsräumen auf der einen, und den hochfrequentierten Handels- und Kommunikationsrouten des Rheintals auf der anderen Seite entwickelte. Dieses Spannungsfeld aus Nischen, in denen sich sehr eigenständige kulturelle und handwerkliche Techniken entwickeln konnten auf der einen, und die Anbindung an Handels- und Kommunikationsrouten auf der anderen Seite, bildete bis in die 1970er Jahre das ideale Fundament für regional geprägte Innovationen.

 

4.2 Ihr habt die falschen Bilder im Kopf

Die überregionale Ikonografie des Schwarzwaldes ist bis heute geprägt von dem Bild, das die deutschen Heimatfilme der 1950er und 1960er Jahre[15] und später Serien wie die „Schwarzwaldklinik“[16] von der Region vermittelten: Bollenhüte, naive Landbevölkerung, schöne Landschaften und idyllische Schwarzwaldhöfe. Diese sehr starken Ikonografischen Anker, wurden in den 1970er und 1980er Jahren aufgegriffen und auf wenige Elemente reduziert, die dafür aber weltweit wahrgenommen wurden. Die Kuckucksuhr, die Schwarzwälder Kirschtorte und der Bollenhut sind ikonografisch wirksamsten Elemente die aus diesem Prozess hervorgingen.

Doch diese Ikonografien greifen heute längst nicht mehr. Nach einer Identitätskrise, die sich vor allem in der Stagnation des Tourismus äußerte, etablierte sich ab Anfang der 2000er Jahre zunehmend eine neue Generation Schwarzwälder, die ganz andere Lebensweisen und Selbstbilder mit sich brachten. Die großartigen Landschaften sind heute auch der Rückzugsraum für global agierende Unternehmen und bestens vernetzte junge Visionäre[17]. Die familiären Wirtshäuser und traditionellen Schnapsbrennereien werden nun von genau den global ausgebildeten und vernetzten Kreativen übernommen, die auch bei Richard Florida eine entscheidende Rolle spielen[18]. Die elterlichen Wirtshäuser wurden zu Sternerestaurants und die Schnapsbrennereien zu international gehypten Szenemarken wie etwa der Monkey47-Gin von Alexander Stein und Christoph Keller. Künstler wie Stefan Strumbel[19] und Jochen Scherzinger (siehe Titelbild) überzeichnen und transformieren die klassischen Schwarzwaldbilder und sind damit weltweit erfolgreich. Digitale Unternehmer nutzen das Spannungsfeld zwischen der Metropolregion Oberrhein und den ruralen Gebieten des Hochschwarzwalds um einerseits den Landschaftsraum als Inspiration und Rückzugsraum zu nutzen und andererseits über eine gute digitale und infrastrukturelle Anbindung an die Metropolen zu verfügen.

Die wesentliche Erkenntnis dieser gesellschaftlichen Beobachtung ist, das Floridas „the-winner-takes-it-all“-Prinzip hier nicht zu funktionieren scheint. Die Clusterung der kreativen Klasse ist offenbar nicht mehr an physische Orte gebunden. Die Digitalisierung und die hohe Mobilität ermöglichen auch andere Modelle des kreativen Schaffens. Vor dem Hintergrund einer Verlagerung der Information und vor allem der Kommunikation in den digitalen Raum scheinen die rauen landschaftlichen Kulissen einen physischen Kontrast zu bieten, der Kreative anzieht.

Das Ziel einer architektonischen und baukulturellen Arbeit im Schwarzwald sollte daher sein, dieser neuen Generation Schwarzwälder ein Abbild zu geben. Um die Ausprägung einer eigenständigen architektonischen Sprache gezielt zu unterstützen und zu fördern, sollten wir uns die tiefgreifenden Veränderungen, die die Architekturproduktion seit einiger Zeit gerade erfährt näher ansehen.

 

4.3 Architektonische Paradigmenwechsel

Der Entwurfs- und Produktionsprozess von Architektur und Stadt erfährt seit einigen Jahren eine strukturelle Transformation, die zeitgleich auf mehreren Ebenen stattfindet. Diese Veränderungen haben wie in vielen anderen Branchen ihren Ursprung in der Digitalisierung und der Globalisierung. Die Architektur wurde in diesem Zusammenhang zunächst von der Veränderung des Planungswerkzeugs an sich beeinflusst. Die Digitalisierung des Zeichenprozesses (CAD) hob zunächst das Verständnis der Einzigartigkeit der Planzeichnung auf und erlaubte die Reproduktion und Variation von Planunterlagen. Erstaunlich ist dabei weniger die technische Veränderung, sondern die Veränderung im Planungsprozess[20] und im Selbstverständnis von der Einzigartigkeit der Planung im Sinne eines Kunstwerks[21]. Diese Evolution der Zeichenwerkzeuge hält bis zur heutigen Diskussion über das Building Information Modeling (BIM)[22] an. Noch gravierender wirken sich jedoch die Digitalisierung der Entwurfswerkzeuge und das daran gekoppelte Digital Prototyping auf die Architektur aus. Die neuen parametrischen Formfindungswerkzeuge[23] wie etwa die Grasshopper Software ermöglichen das einfache Entwerfen von hochkomplexen Formen. Durch die schnelle physische Realisierung von Prototypen mit Hilfe von 3D-Druckern und digital gesteuerten Fräsen lassen sich diese Formen auch physisch unmittelbar abbilden.

Diese neuen Prozesse verändern auch die Methodik des Entwerfens und die Rolle des Entwerfenden. Durch die digitalen Werkzeuge wird die Aufgabe des Abwägens von relevanten Parametern – also das Bewerten von Informationen – immer mehr zum Kern der architektonischen Kompetenz[24]. Die Faszination für diese neuen Perspektiven hat in den vergangenen Jahren zu einer ganzen Reihen von formalen Experimenten geführt, wie sie etwa von Zaha Hadid, UN-Studio, MAD und anderen entwickelt und umgesetzt werden[25]. Die resultierenden architektonischen Formen sind von dynamischer Ästhetik und bieten völlig neue geometrische Perspektiven. Diesen Experimenten wird allerdings häufig zurecht der Vorwurf der kontextuellen Beliebigkeit gemacht. Die Parameter, die für die generierenden Algorithmen zugrunde gelegt werden, sind entweder technischer Natur (Tragwerk, Technik, minimaler Materialeinsatz etc.), basieren auf abstrakten mathematischen Phänomenen, oder folgen funktionalen Annahmen wie etwa den Bewegungsmustern der Nutzer. Der in der klassischen Architektur sehr wichtige Parameter des lokalen architektonischen Kontextes und seiner kulturellen Bezüge tritt beim digitalen Entwerfen allzu oft in den Hintergrund. Da die parametrisch generierten Architekturen häufig sehr expressiv sind und als spektakulär wahrgenommen werden, werden sie gezielt in räumlich freigestellten Situationen als identitätsstiftende Ikonen eingesetzt[26]. Diese räumliche Positionierung im Stadtgefüge entbindet sie formal vom Kontextbezug, was diesen architektonisch so wichtigen Punkt in der Regel vernachlässigt.

Wird diesen Aspekten in den Entwurfsprozessen aber mehr Relevanz eingeräumt, so wirken sie integrativer und stellen einen lokalen Bezug her. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Holzpavillons von Achim Menges und des ICD Stuttgart[27]. Trotz des methodischen, formalen und konstruktiven Experiments und der daraus resultierenden spektakulären Form wirken sie baukulturell und kontextuell integriert.

 

Wenn es also gelingt den kulturellen, historischen und formalen Kontext als prägende Parameter in den digitalen Formfindungsprozessen zu etablieren, so können die Ergebnisse wesentlich selbstverständlicher in ihren Kontext eingebunden werden.

 

4.4 Die regionale Identität ist der analoge Anker der digital Natives

Diese architektonisch-städtebauliche Forderung nach mehr Kontextbezug hat auch ein soziales und psychologisches Äquivalent. Wir erleben seit geraumer Zeit eine Renaissance der Regionen. Vor allem Regionen mit sehr ausgeprägten kulturellen Merkmalen wie etwa Graubünden, Vorarlberg, Tessin[28] oder auch Hamburg entdeckten die Regionalität in den letzten Jahren neu. Die Ausbildung leicht identifizierbarer regionaler Identitäten, die ursprünglich dem Tourismusmanagement entstammt, spielt beim Standortmarketing der Städte eine entscheidende Rolle. Diese „weichen Standortfaktoren“ sind im Wettbewerb der Städte und Regionen um Einwohner, Unternehmen, Studenten oder Touristen entscheidend.

 

Dieser neue Regionalismus ist jedoch auch nicht ganz ungefährlich und muss klar gegenüber nationalkonservativen, xenophoben und populistischen Strömungen abgegrenzt werden. Es gibt zweifellos Vorbehalte und Ängste gegenüber einer globalen und vernetzten Gesellschaft[29]. Unabhängig davon ob diese berechtigt sind oder nicht müssen sie aufgegriffen und thematisiert werden. Ein wirkungsvolle Möglichkeit diesen Bedenken zu begegnen ist die Stärkung einer regionale Identität, die – im Sinne von Robertsons Glokalisierung[30] – mit den globalen und digitalen Perspektiven kompatibel ist. Vielleicht kann der Rückbezug auf das direkte physische, soziale und ikonografische Umfeld sowie die Wiederentdeckung traditioneller Elemente auch eine ausgleichende Komponente in der von globalen Sicht- und Handlungsebenen und virtuellen Räumen geprägten Welt sein. Ich stelle daher die These auf, dass die regionale Identität der analoge Anker der Generation der Digital Natives ist. Die durch die Digitalisierung und Vernetzung erzeugte globale Lebensweise braucht als dualistischen Gegenpol einen analogen lokalen Anker. Local body – global eye.

 

In diesem dualistischen Verständnis liegen zwei große Chancen. Zum einen lassen sich damit populistische Tendenzen wirksam zurückdrängen, zum anderen bietet es große Potenziale für die oft identitätsstarken aber ökonomisch und demografisch stagnierenden ruralen Räume. Sie bieten die landschaftlichen Rückzugsräume und die global wirksamen historischen Narrative. Diese kann sich die digitale und global agierende creative class[31] aneignen und individuell transformieren. 

 

4.5 Eine neue Schwarzwaldbaukultur?                                   

Der oben beschriebene Prozess findet wie in These zwei dargelegt im Schwarzwald seit einigen Jahren statt. Die Starke Ikonografie und die global wiedererkennbaren Bilder von Bollenhut, Schwarzwälder Kirschtorte oder Schwarzwälder Schinken und Schnaps, werden auf einem beachtlichen qualitativen Niveau sehr erfolgreich transformiert. Was bislang weitgehend ausblieb ist die architektonische Transformation der historisch überaus beachtenswerten Architektursprache[32] und der sehr facettenreichen Holzbautradition[33]. Auf der handwerklichen Ebene sind die in These drei beschriebenen technischen Innovationen bereits in den hintersten Winkeln des Schwarzwaldes angekommen. Das handwerkliche Produktionsniveau ist häufig auf dem neusten Stand der Technik und die qualitativen Outputs werden auch den anspruchsvollsten und komplexesten globalen Architekturen gerecht[34]. Es fehlt allerdings eine eigene Architektursprache, die die oben beschriebene Transformation auf einem intellektuellen und praktischen Niveau leisten kann. Wie könnte diese Sprache entwickelt werden?

 

Die in These drei beschriebenen technischen Paradigmenwechsel der Architektur bieten interessante Anknüpfungspunkte zur Schwarzwälder Bautradition. Der gezielte Materialeinsatz und die damit einhergehende historische handwerkliche Expertise in der Holz-, Glas- und Metallbearbeitung sind vielerorts bereits in der digitalisierten und individuellen Produktion angekommen. Hier könnte eine eigenständige Architektursprache ansetzen. Die energieffiziente und auf den topografischen Kontext bezugnehmende Bauweise der Schwarzwaldhäuser[35] bietet ebenfalls interessante inhaltliche und formale Anknüpfungspunkte. Beide Themen findet man sowohl im zeitgenössischen Architekturdiskurs, als auch in den zeitgenössischen globalen Architekturtrends wieder. Die auf tragwerksplanerischen Prinzipien beruhende Fachwerkbauweise ist ein idealer Ausgangspunkt für den Einsatz parametrischer Entwurfsmethoden. Die reiche geometrische Ornamentik die auf den lokalen Zimmermanns- und Steinmetztraditionen beruht, bietet sich für eine digitale Transformation und Variation regelrecht an.

 

Viele dieser Themen sind sehr naheliegend, es fehlt allerdings noch die Bereitschaft zum Experiment und eine kritische Masse an kollaborierenden Architekten[36], um diese eigene Sprache zu entwickeln. Die Anpassung an die technischen Standards der Digitalisierung von der parametrischen Entwurfssoftware über BIM bis zum Rapid Prototyping ist vermutlich der kleinere Schritt und findet bereits in der Breite statt. Schwieriger scheint es da, die Entwurfs-, Planungs- und Umsetzungsmethoden entsprechend zu transformieren.

 

Die versierte Neuinterpretation von klassischen Bau- und Kulturtechniken setzt natürlich die Kenntnis derselben voraus. Das intensive Eindenken in den Kontext braucht ebenso Zeit wie der intellektuell aufwendige Prozess des vielschichtigen Interpretierens. Diese Zeit räumen sich die Architekten selten ein. Die Wertschätzung der so entwickelten Projekte kommt außerhalb der Architektenschaft oft zu kurz. Dennoch verändert sich offenbar das Selbstverständnis vor allem der jüngeren Architektengeneration. Die Befreiung von stilistischen Paradigmen in Kombination mit dem Wunsch nach neuen Narrativen und der nötigen Kenntnis der Werkzeuge sollte ein tragfähiges Fundament für einen neue Schwarzwälder Baukultur sein.

 

 

  1. Eine glokalisierte Baukultur als Chance für den ländlichen Raum (Fazit)

 

Was sind also die übertragbaren Erkenntnisse aus der Fallstudie des Schwarzwaldes? Wie können die ländlichen Räume eine eigenständige Identität (im Sinne einer Baukultur) entwickeln und damit der gut ausgebildeten und global agierenden jungen Generation eine Zukunft bieten?

 

Die Digitalisierung führt zu einer Entterritorialisierung von Arbeit und Wissen. Entgegen Richard Floridas Prognose ist die für den wirtschaftlichen Erfolg von Regionen bedeutende Generation an gut ausgebildeten jungen Kreativen nicht mehr an physische Präsenz in den Metropolen gebunden. Der erfahrbare Landschaftsraum bietet gerade für die Generation der Digital Natives einen inspirierenden Kontrast zu ihren globalen und digitalen Handlungsfeldern.

Die reizvollen Landschaften und ihre gute Anbindung an digitale Hochgeschwindgkeitsnetze reichen jedoch nicht aus. Die Attraktivität solcher Regionen hängt im digitalen Zeitalter wesentlich von den Aneignungs- und Transformationspotenzialen ihrer Geschichten und Ikonografien ab. Regionen mit einer ikonografisch global wirksamen Historie verfügen über einen klaren Wettbewerbsvorteil. Ihre starken Narrative bieten Anknüpfungspunkte für transformatorische Weiterentwicklungen. Ziel der ländlichen Regionen muss es sein, diese kollektiven Narrative aneigen- und fortschreibbar zu machen.

 

Die regionale Baukultur kann ein wesentlicher Baustein in dieser Entwicklung sein. Das große Potenzial des ländlichen Raumes liegt in seiner Dualität von physischem Rückzugsraum und der Dezentralität der immer wichtiger werdenden digitalen Handlungsfelder. Die Architektursprachen der Metropolen unterliegen sehr viel stärker dem globalen Zeitgeist sind trotz ihres hohen Innovationsgrades und ihrer kontextuellen Sensibilität im Bezug auf ihre eigenständige Architektursprache eher austauschbar.

Im ländlichen Raum hat sich von dieser baukulturellen Dynamik entkoppelt eine Nische gebildet, in der sich sehr spezifische Architektursprachen entwickeln konnten. Durch die digitalisierungsbedingte Entkopplung von physischem Raum und Wissen/Produktion sind die Kompetenz und die Werkzeuge der baukulturellen Innovation auch in diesen Nischen verfügbar.

Im Vergleich mit der Heterogenität der Metropolen lassen sich die kollektiven Narrative im ländlichen Raum einfacher identifizieren und klarer in die Zukunft entwickeln. Die Ausbildung einer klaren und kontextspezifischen regionalen Architektursprache fällt im ländlichen Raum leichter als in den Metropolen. Um dies zu erreichen braucht es neben den aneigenbaren starken Narrativen auch eine kritische Masse kollaborierender Architektur- und Kulturschaffender, innovative Handwerksbetriebe, gut ausgebaute digitale und physische Infrastrukturen sowei eine gesellschaftliche und politische Avantgarde, die diese Entwicklung unterstützt[37].

Die Anforderungen an die Architekten sind groß, das „fablaben“ der Kirschtorte ist nicht leicht. Die digitalen Entwurfstools müssen beherrscht werden. Die Architekten müssen einerseits pragmatisch, kompromissbereit und kollaborationsfähig sein, um in den lokalen Systemen handlungsfähig zu bleiben. Andererseits müssen sie aber auch wissenschaftlicher arbeiten, traditionelle Kultur- und Bautechniken erforschen und diese darüber hinaus in die Zukunft projizieren können. Das Ziel lohnt allerdings den Aufwand: eine auf vielen Ebenen kontextbasierte, ortsspezifische und gleichzeitig zeitgenössische Architektursprache auf globalem Niveau. Die Glokalisierung der regionalen Baukultur. Das fablaben der Kirschtorte.